Perspektiven auf die Corona-Demos

Über den “richtigen” Umgang mit der Corona-Pandemie wird gestritten und debattiert. Über den richtigen Umgang mit den rechtsoffenen Corona-Demos herrscht jedoch eine seltsam anmutende und verstörende Einigkeit. Hier und da wird zwar darauf hingewiesen, dass der Terminus “Covidioten” ableistisch ist und dass das Wort Verschwörungstheorie den falschen Anschein von Wissenschaftlichkeit erwecken kann und man darum besser “-ideologie” oder “-erzählung” nutzen sollte. Das sind fraglos wichtige Beiträge zu dieser Debatte. Aber um den Kern der Frage, nämlich, was so viele Menschen dazu bringt, solch offensichtlich unwissenschaftlichen Unfug zu vertreten, und aus jeglicher logischen Lebensführung herauszutreten und in die pure Emotion einzutreten, wird sich nichtwissenwollend und nichtinteressierend ausgeschwiegen. Diese Menschen werden kurzerhand als Verirrte stigmatisiert, und das Thema wird mit dieser breit geteilten und allseits anerkannten Erkenntnis schleunig abgeschlossen.
Ein alter Text aus dem September 2020.
Pandemische Zustände
Mich aber treibt um, dass ich persönlich und im Grundsatz mit den “Skeptikern” übereinstimme: der Staat will uns ganz grundsätzlich nichts Gutes. Der Staat will das kapitalistische Gesellschaftssystem und seine Macht erhalten. Das nimmt er als seine ureigenen Aufgaben wahr. Er schützt die Minderheit der Reichen um jeden Preis. Dieser Preis ist für den Staat mal mehr, mal weniger hoch. Wenn die Maschine rund läuft, kostet der Schutz der Wenigen nicht sehr viel, denn die Vielen haben die Machtpraktiken und Sicherheitsdispositive verinnerlicht und in ihre Leben eingebunden.
Dieser Preis ist grundsätzlich und vor allem durch die vom Staate zugestandene Freiheit bemessen. In pandemischen Zeiten jedoch steigt dieser Preis, wie wir lernen konnten. Die Regierung bat höflichst darum, sich nicht mehr außer Haus aufzuhalten - die Wörter Ausgangssperre, Ausnahmezustand u.ä. wohlwissend vermeidend, denn das wären rechtliche Kategorien, auf die sich im Gegenzug dann auch die Mensch berufen könnte. Den Sinn dahinter, warum man vermeiden wollte, dass sich Menschen, und eben nicht nur die Repressionsorgane, auf das Recht berufen können, werden wir gleich sehen.
Es gab im Großen und Ganzen zwei Ausnahmen von dieser als Ausgangsbeschränkung getarnten Ausgangssperre: die Versorgung mit Lebensmitteln - und die Arbeit. Nur ein gut genährter Arbeiter kann Mehrwert erzeugen. Über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinausreichend arbeitete man seit über einem Jahrhundert[^1] daran, das Einkaufen und Shopping zu einer freiheitlichen Betätigungen zu machen. Recht erfolgreich, möchte ich an dieser Stelle anmerken. Darauf werden wir beim Versuch, den Begriff der Freiheit zu fassen, welcher im Zusammenhang mit diesen Corona-Demos immer wieder aufblitzt, noch zurück kommen.
Während also die Wenigen, die Wohlhabenden, sich überhaupt nicht um die Ausgangsbeschränkung scherten, und während der ständig um Aufstieg bemühte Mittelstand und Teile des akademischen Prekariats sich im Homeoffice einrichtete und sich zuvorderst mit der verschlafenen Digitalisierung herumschlug, ging der Großteil der Menschen von der Pandemie völlig unbeeinträchtigt ihrer Arbeit nach. Gerade so, als ob das Virus vor den Werken und Büros Halt mache. Erste zögerliche Stimmen aus der Wissenschaft meldeten, dass sich das Virus nun, da alle Zuhause blieben, wohl über die Landkreisgrenzen vor allem durch Pendler verbreite. Wissend, dass die Maschine auch in pandemischen Zeiten laufen muss und es dazu eben Menschen und vor allem das ihm wohlbekannte “Blut, Schweiß und Tränen” braucht, um die Räder und Rädchen der Maschine zu schmieren, nahm die Regierung möglichst wenig Kenntnis von der Erkenntnis, dass womöglich gerade die tägliche Arbeit ein Verbreitungsweg des Virus sei.
Wohl ein Versehen war auch die eigens geschaffene Möglichkeit, sich telefonisch beim Arzt eine Krankmeldung einzuholen - um jeden Kontakt mit Arzt oder Patienten zu vermeiden. Unglaublich, wie fürsorglich der Vater Staat plötzlich sein konnte! Doch schon nach kurzer Zeit wurde diese Regelung auch schleunig wieder zurückgenommen - die Kosten-Nutzenabwägung erbrachte wohl negative Folgen für das Kapital. Da geht man lieber das Risiko einer Ansteckung ein, als dem Volk eine solche Waffe in die Hand zu geben.
Monate später dann kam man um die Erkenntnis, dass die Arbeitsplätze der Menschen wahre Infektionsherde sind, nicht mehr herum. Gerade in den Billiglohnbetrieben (und dort vor allem in der Nahrungsmittel“produktion”), welcher unsere wenig geschätzte “Arbeiter”partei SPD in den Nullerjahren den wirtschaftlich breiten und rechtlich gut ausgebauten Weg in die Gesellschaft geebnet hat, stiegen die Infektionszahlen. Noch immer kümmerte man sich mehr um die Zahlen und die Folgen der Zahlen als um die Menschen und die Folgen einer Erkrankung. Wir alle haben die Bilder der extrem repressiv bewachten Wohnsilos der Arbeiter der Fleischbetriebe vor Augen. Rechenspiele wie das Clustering wurden exerziert, um die eigene Regelung (eine willkürliche Anzahl der Ansteckungen pro Landkreis sollte wieder zur Schließung desselben führen, also zu einer nicht Ausgangssperre, sondern Ausgangsbeschränkung genannten Lahmlegung des öffentlichen Lebens) zu unterlaufen und die “Öffnung” der Gesellschaft - im pandemischen Falle heißt das, das haben wir inzwischen gelernt, nichts anderes als die Öffnung der Wirtschaft - nicht zu gefährden. Genau das ist auch der Grund, warum auf eine Ausgangssperre als rechtliche Kategorie verzichtet wurde: die Menschen würden sich fragen, warum sie unter Strafandrohung nicht mehr aus dem Haus dürfen - aber arbeiten sollen sie noch gehen? Nur unter Vermeidung des Rechts auf Überleben in einer Pandemie können die Menschen weiterhin ihren produktiven und finanziellen Beitrag leisten - und die Reichen noch reicher machen.
Es ist nicht weiter verwunderlich, dass das von der Bankenkrise 2008 bekannte Wort “Systemrelevant” wieder aufgegriffen wurde - nur dieses Mal waren es nicht die Banken, sondern die Menschen, die den Alltag am Laufen halten. All die kleinen Rädchen, die der Versorgung der Menschen dienen, vom Gesundheitsbereich über die Logistik bis an die Supermarktkasse - allen wurde gedankt. Mancherorts soll sogar allabendlich von den Balkonen applaudiert worden sein. Allen war klar, dass diese Menschen nun endlich die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Vielen dachten wohl zum ersten Mal darüber nach, was es bedeutet, in einem Krankenhaus zu arbeiten oder dafür zu Sorgen, dass ein Supermarkt funktioniert. Durch die Krise wurde sichtbar, dass vor allem Frauen in diesen schlecht bezahlten Jobs täglich Großes leisten - und dass sie dringend eine Gehaltserhöhung brauchen, oder wenigstens einen saftigen Bonus.
Die Krankenhäuser standen naturgemäß unter besonderer Beobachtung, schließlich ist Corona eine Gesundheitskrise. Doch diese waren denkbar schlecht vorbereitet und ausgerüstet. Nach wenigen Tagen schon gingen wenige Cent teure Einweg-Schutzmasken aus und mussten mehrfach verwendet werden. Oder ausgekocht. Schutzkleidung, um sich vor einer Ansteckung zu schützen, gab es auch keine mehr. So arbeiteten die Menschen unter hohem persönlichen Risiko. Für die Gesellschaft war klar, dass sie zur Gehaltserhöhung noch eine einmalige Risikozulage bekommen müssten. Mittlerweile ist es Herbst, und niemand redet mehr von “systemrelevanten” Menschen. Risikozulagen oder Gehaltserhöhungen wurden selbstverständlich nicht in einem wesentlichen Umfang ausbezahlt.
Ein besonderes Augenmerk bei den großen Erzählungen um Schließungen und Öffnungen galt die Jüngsten, den Kindern, den Schülern. Jedoch, wie sollte es anders sein in einer Gesellschaft, die sich auch sonst kaum um die unproduktiven Teile ihrer Selbst schert und diese wann immer möglich wegschließt, ging es nicht um die Kinder und Schüler als Menschen, sondern um sie als Überträger des Virus, als Zwischenwirte, als gefährliche Infektionsträger und vor allem um die nun geschlossenen Verwahranstalten, welche den Eltern sodann einiges an Mühsal abverlangten. Diese Mühen bezogen sich einerseits auf den Zustand, dass die Kinder nun den ganzen Tag zu Hause sind und man sich mit ihnen Beschäftigen muss, sie auch noch selbst “beschulen” sollte, um ihre noch jungen Karrieren in der Verwertungsmaschine nicht zu gefährden. Welch Wehklagen der Eltern war da zu vernehmen. Durch die Presse geisterte eine Zeitlang gar das geflügelte Wort einer “verlorenen Generation”. Das Beschäftigen und Beschulen der eigenen Kinder bringt natürlich mit sich, dass ein Elternteil nun nicht gleichzeitig Arbeiten gehen und Kindererziehung leisten kann. Insofern schadeten plötzlich die Kinder der Maschine, indem sie die Eltern davon abhalten, Mehrwert und Reichtum für die Wenigen zu erwirtschaften. Die Zukunft blockiert die Zukunft - eine der vielen Paradoxien dieser Gesellschaft, die uns die Pandemie aufgezwungen hat, aus den theoretischen Debatten herauszuschneiden und in die Realität zu setzen.
Wieder standen die Menschen am Rande und das wirtschaftliche Funktionieren des zerbrechlichen Systems im Zentrum der Regierungshandelns. Währenddessen fragte sich die NZZ, wie man die Kosten pro Leben senken könnte.
CoronaSkeptiker, Leugner und Demonstranten
Warum also gehen so viele auf die Straße und demonstrieren gegen die “Corona-Diktatur”? Zwei Punkte fallen hier besonders auf: deren tiefe Skepsis gegenüber den den Repräsentanten dieses Staates, personifiziert von “Politikern”, vorzugsweise von bestimmten PolitikerInnen, und zweitens die Rechtslastigkeit mitsamt der ihr typischen Anbiederung an die Staatsgewalt. Gerade letzteres scheint mir doch sehr paradox: die Politiker sind korrumpiert und gehören abgeschafft, aber die Polizei, deren ureigenste Aufgabe es ist, den Staatsapparat zu schützen, auf dessen Befehl diese gegen aufmüpfige Bürger vorgehen, soll “Freund” sein? Wir erinnern uns: aufmüpfig war zu Beginn der Pandemie schon ein Bürger, der alleine Bücherlesend auf einer Parkbank saß!
Wir dürfen bei all der vielschichtigen Betrachtung einiges nicht vergessen: die Menschen sind es gewohnt, von Politikern belogen zu werden. Nicht nur in Zeiten des Wahlkampfes, sondern täglich. Jeder einzelne Skandal und jedes Skandälchen aktualisiert dieses Wissen auf’s Neue. Darüberhinaus wissen wir, dass Konzerne aller Art uns, also den Staat, betrügen, wo sie nur können - und dass Politiker sie lassen, dabei gerne helfen, vertuschen, und wie selbstverständlich die eigenen Taschen aufhalten. Die sorgsam gezüchtete und gehütete Lobbykratie ist undurchsichtig. Das stärkt das Gefühl, betrogen und manipuliert zu werden.
Die Presse, die vierte Macht im Staat, unterliegt dem Druck der Sensationen, des News-Wertes, anstatt bedächtig über diese und andere unschöne Verquickungen aufzuklären. Entsprechend ergab eine Umfrage unter Lehrern eine besorgniserregend große Skepsis gegenüber den Medien. Die Wissenschaft wiederum verspürt einen ganz ähnlichen Druck und steht einerseits unter Publikationszwang, andererseits müssen Ergebnisse wirtschaftlich verwertbar sein - was natürlich schon ganz am Anfang des wissenschaftlichen Prozesses, im Forschungsantrag und im werben um Drittmittel eine Rolle spielt. Alle zusammen spielen bei FUD-Kampagnen mehr oder weniger gerne mit - schließlich sind sie alle dem Zwang unterworfen, Geld verdienen zu müssen. Zu guter Letzt werden für jeden Adressaten und Interessierten die passenden Informationen und die passenden alternativen Fakten für’s Internet produziert. Viele alternative Fakten sind spitzfindig gewobene Manipulationen - andere wiederum einfach nur Dummheiten. Medienkompetenz wird allerdings als Anhängsel der Digitalisierung, also irgendwas mit Internet, verstanden. Es bleibt jedem selbst überlassen, ob er die Bild-Zeitung oder obskure Internetquellen liest oder sich mit Zusammenhängen und Fakten befassen will. Das Wissen um Quellenkritik spielt in außeruniversitären Zusammenhänge keine Rolle. Nur so konnte es wohl geschehen, dass es seit dem Jahr 2020 nicht nur Fakten gibt, sondern eben auch “alternative Fakten”.
Die Bourgeoisie könnte ihre eigene Welt sprengen und ruinieren, bevor sie die Bühne der Geschichte verlässt. – Buenaventura Durruti
Auf diese unschöne Gemengelage treffen nun Menschen, die in ein Bildungsund Wertesystem hineingezwungen sind, das Konkurrenz und Egoismus statt Solidarität und Empathie fordert, fördert und für den größten Teil der Gesellschaft gleichsam erzwingt. Den pandemiebedingten und plötzlichen “Systemrelevanten” wird in großen Worten Dankbarkeit versprochen. Dankbarkeit drückt sich in diesem System vorwiegend durch Geld aus. Noch während der Krise lernen wir: leere Versprechungen. Für die Helden der Pandemie, den systemrelevanten Alltagshelden, gibt es keine Lohnerhöhung, sondern eine Tafel Schokolade - gespendet vom Schokoladenhersteller, der seine Propagandachance witterte.
Eine gesellschaftliche Großwetterlage mit so vielen negativen Gewissheiten, und noch viel mehr Ungewissheiten, produziert wütende, emotionale und damit manipulierbare Menschen. Die Menschen sind schließlich nicht dumm. Sie haben einfach die Schnauze gestrichen voll davon, nicht als Person ernst genommen zu werden und ständig das Gefühl haben zu müssen, belogen zu werden. Und davon, dass die große Erzählung der Leistungsgesellschaft eben für einige immer etwas wahrer ist, für viele aber nur das eine bleibt: eine falsche Erzählung.
Die Rechten, theoretisch, technisch und medial seit Jahrzehnten gut aufgestellt und vernetzt, kalkulieren, verstärken und nutzen diese Unzufriedenheit, diese Emotionen und diese Wut. Wenn man die jüngsten Aufdeckungen zu den Nazi-Netzwerken verallgemeinert, gibt es eine politische, bürgerlich getarnte Rechte, die im Zweifel (am “Tag X”) von Polizei und Militär euphorisch unterstützt werden. Nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung sind sowieso rechtsoffen, und die Corona-Demos werden ganz offensichtlich als Vehikel genutzt, um neonazistische Denke weiter zugänglich zu machen.
Keine Regierung kämpft gegen den Faschismus, um ihn zu zerstören. Wenn die Bourgeoisie sieht, dass ihr die Macht aus den Händen gleitet, erhebt sie den Faschismus, um an ihren Privilegien festzuhalten. – Buenaventura Durruti
Literatur
[^1]: König, Gudrun M. “Modus Der Moderne. Die Permanente Erfindung Der Konsumenten,” In Transformationen Des Konsums, 99–107. Nomos, 2019.
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