Ein neues Menschenbild - Utopien einer besseren Zukunft
In einer Welt, die von Konflikten, Konkurrenz und Misstrauen geprägt ist, erscheint die Vorstellung einer friedlicheren, kooperativen Gesellschaft oft naiv oder utopisch. Doch gerade hier setzt ein grundlegender Perspektivwechsel an: bei der Revision unseres Menschenbildes.
Der Mensch – von Natur aus kooperativ
Die Annahme, dass der Mensch im Kern aggressiv und eigennützig sei, dominiert weite Teile westlicher Kultur und politischer Theorie – von Thomas Hobbes’ berühmtem homo homini lupus bis hin zu popkulturellen Darstellungen in Massenmedien. Doch empirische Forschung in Anthropologie, Psychologie und Geschichte widerspricht dieser Sichtweise zunehmend.
Samuel L.A. Marshall stellte bereits 1947 anhand von Interviews mit US-Soldaten fest, dass im Zweiten Weltkrieg lediglich rund 15–25 % der Soldaten ihre Waffen im Kampf tatsächlich einsetzten – weniger aus Feigheit als vielmehr aus moralischer Hemmung zu töten. Diese Erkenntnis wurde später durch die Forschungen von Lt. Colonel Dave Grossman bestätigt, der in On Killing (1995) ähnliche Hemmungen auch im Vietnamkrieg dokumentierte.
Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel bietet die sogenannte Weihnachtswaffenruhe von 1914: Deutsche und britische Soldaten legten an der Westfront spontan die Waffen nieder, sangen gemeinsam Weihnachtslieder, tauschten Geschenke und spielten Fußball. Dieses Phänomen widerspricht deutlich der Annahme, dass Menschen unter extremem Druck zwangsläufig zu brutaler Gewalt neigen (Brown, 2006).
Auch in Katastrophen zeigt sich die soziale Natur des Menschen. Entgegen dem verbreiteten Mythos, dass Naturkatastrophen zu Gewalt, Plünderung oder Anomie führen, belegen soziologische Studien das Gegenteil: Die Katastrophenforschung, etwa durch das Disaster Research Center (Quarantelli, Dynes u. a.), zeigt, dass Menschen in Ausnahmesituationen typischerweise mit Solidarität, gegenseitiger Hilfe und Selbstorganisation reagieren – nicht mit Chaos. Rebecca Solnit fasst dies eindrucksvoll zusammen: „In Katastrophen erleben wir oft eine utopische Gesellschaft im Kleinen“ (Solnit, 2009). Sie analysiert unter anderem die Reaktionen auf das Erdbeben von San Francisco 1906, die Explosion in Halifax 1917, das Erdbeben in Mexiko-Stadt 1985, die Anschläge vom 11. September 2001 und den Hurrikan Katrina 2005. In all diesen Fällen beobachtet sie, dass Menschen in Krisenzeiten spontan Gemeinschaften bilden, sich gegenseitig unterstützen und solidarisch handeln, oft ohne Anleitung durch offizielle Institutionen. Diese Erkenntnisse widersprechen dem Mythos der „Massenpanik“ und der Vorstellung, dass Menschen in Katastrophen primär egoistisch oder gewalttätig reagieren. Stattdessen zeigen sie, dass Altruismus und Gemeinschaftssinn tief in der menschlichen Natur verankert sind und gerade in Extremsituationen zum Vorschein kommen.
Auch in der Primatenforschung zeigt sich ein differenzierteres Bild: Während Schimpansen territoriale Aggression zeigen können, leben Bonobos – unsere ebenso nahen Verwandten – in matriarchalen, friedlichen Gemeinschaften mit ausgeprägtem kooperativem Verhalten. Daraus lässt sich schließen, dass Kooperation ebenso tief biologisch verwurzelt ist wie Konkurrenz.
Das norwegische Gefängnismodell – Respekt statt Repression
Das norwegische Justizsystem gilt international als Vorreiter für einen humanistischen Strafvollzug. Gefängnisse wie Halden oder Bastøy beruhen auf dem Prinzip der Resozialisierung durch Vertrauen, Selbstverantwortung und menschenwürdige Bedingungen. Inhaftierte leben in Wohnungen mit Küche, haben Zugang zu Bildung, Kultur und Arbeit – mit dem Ziel, sie als Bürger:innen in die Gesellschaft zurückzuführen, nicht aus ihr auszusperren.
Mit einer Rückfallquote von nur rund 16 % (Pratt, 2008) hebt sich Norwegen deutlich von Ländern mit repressiveren Modellen ab, etwa den USA, wo über 60 % der Entlassenen innerhalb von drei Jahren erneut straffällig werden (Bureau of Justice Statistics, 2014). Diese Zahlen sprechen für sich: Ein positives Menschenbild hat praktische Auswirkungenauf gesellschaftliche Stabilität und individuelle Entwicklung.
Gesellschaftliche Utopie – Realistische Möglichkeiten
Ein positives Menschenbild hätte transformative Konsequenzen:
- Bildung: Lernende profitieren von Vertrauen, Autonomie und kooperativen Lernformen.
- Arbeitswelt: Kooperation erhöht Innovationsfähigkeit und psychisches Wohlbefinden.
- Justiz: Restorative Justice-Ansätze zeigen, dass soziale Wiedergutmachung nachhaltiger ist als Strafe.
Ein anderes Menschenbild – Ein anderer Horizont
Rutger Bregman plädiert in Im Grunde gut (2020) dafür, dass ein positives Menschenbild kein naiver Idealismus, sondern eine notwendige Grundlage für gesellschaftlichen Fortschritt ist. Anthropologische Studien indigener Gesellschaften, historische Beispiele spontaner Solidarität in Krisen und die Erfolge kooperativer Institutionen belegen: Der Mensch ist kein Egoist im Triebpanzer, sondern ein soziales, empathisches Wesen – wenn man ihn lässt.
Dieser Perspektivwechsel verlangt ein radikales Umdenken: Weg von einer Politik der Angst und Kontrolle, hin zu Vertrauen, Teilhabe und sozialer Sicherheit. Nur so können langfristig gerechtere, friedlichere Gesellschaften entstehen.
Literaturverzeichnis
- Bregman, R. (2020). Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit. Rowohlt.
- Brown, M. (2006). Christmas Truce: The Western Front, December 1914. Pocket Books.
- Grossman, D. (1995). On Killing: The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society. Back Bay Books.
- Marshall, S. L. A. (1947). Men Against Fire: The Problem of Battle Command in Future War. University of Oklahoma Press.
- Pratt, J. (2008). Scandinavian Exceptionalism in an Era of Penal Excess. The British Journal of Criminology, 48(2), 119–137.
- Quarantelli, E. L. & Dynes, R. R. (1977). Response to Social Crisis and Disaster. Annual Review of Sociology, 3, 23–49.
- Solnit, R. (2009). A Paradise Built in Hell: The Extraordinary Communities That Arise in Disaster. Viking.
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