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Die Götter verlangen Opfer

Die Götter verlangen Opfer

Im März 2020 beherrschte Corona Deutschland mit voller Wucht, auf allen denkbaren Ebenen. Eine Art lähmender Starre hatte sich über das Land gelegt. Draußen war es ruhig, auf der sonst verkehrsreichen Durchgangsstraße hätte man Ball spielen können - wenn man denn hätte 'raus gehen dürfte. Außer zum Arbeiten und für die nötigen Einkäufe, um die Arbeitskraft und Produktionsfähigkeit zu erhalten, wurde man unter Androhung von Strafen eindringlich "gebeten", zu Hause zu bleiben und auf keinen Fall andere Menschen zu treffen. Berichte über Menschen, die aufgrund eines beschaulichen Vergehens – etwa allein auf einer Parkbank ein Buch zu lesen – zu hohen Bußgeldern verurteilt wurden, machten die Runde. Das Infektionsschutzgesetz erlaubte eine Reihe von Maßnahmen, die sich in ihrer Absurdität überschlugen.

Gerade das kontrafaktische an der klarerweise unklaren und hemdsärmeligen Ad-hoc-Seuchenbekämpfung brachte solche absurde Wirklichkeiten zu Tage. Man verlangte von den Menschen, weiterhin täglich ein Drittel ihrer Lebenszeit an potenziell kontaminierten Arbeitsstätten zu verbringen. Doch das zweite Drittel ihrer wachen Existenz – die Zeit der sozialen Kontakte und Begegnungen – wurde ihnen kategorisch untersagt.

In den Medien beherrschten vor allem jene Stimmen die Debatte, deren Alltag sich ins Homeoffice verlagert hatte. Diese etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung bemerkten nun plötzlich, dass sie Kinder haben, deren Betreuung im häuslichen Umfeld unvereinbar mit einer kontinuierlichen Erwerbsarbeit schien, nachdem die vormals selbstverständlichen Institutionen der Kinderbetreuung geschlossen worden waren. Unterdessen verließen rund 65 Prozent der Menschen Tag für Tag ihren Unterschlupf, um in die "verseuchte" Ungewissheit hinauszugehen. Der verbleibende, marginalisierte Rest bestand aus Arbeitslosen, Kurzarbeitenden und jenen, die sich ihre kleinen Schutzzonen im Widerstreit mit Vorgesetzten und Kolleginnen erst mühsam erkämpfen mussten, um die Gefahr einer Ansteckung zu minimieren – sei es, um den gefährdeten Partner, die hochbetagten Eltern oder andere Risikopersonen im nahen Umfeld zu schützen.

Die öffentliche Debatte kreiste dabei immer wieder um die über 80-Jährigen, die als Hochrisikogruppe in besonderem Maße gefährdet waren – nicht, weil sie im Verdacht standen, die Gesellschaft ausbeuten zu wollen, sondern allein aufgrund ihres Alters. Das Corona-Virus infiziert zwar ohne Ansehen der Person alle. Aber für alte Menschen, für Menschen mit Vorerkrankungen, ist das Risiko, daran zu sterben, deutlich erhöht. Nun ist es ein Wink des Schicksals, oder einfach die Natur der Dinge bzw. der Viren, dass diese kapitalistischen Minderleister, also die, von denen wenig bis keine Produktion und Steuern zu erwarten ist, von der Gesellschaft trotzdem und ganz besonders in Schutz genommen werden müssen. Wieviel Lebenszeit von Menschen, die ihre produktive Phase längst hinter sich haben, ist der Gesellschaft ökonomisch betrachtet wert? So sollte man denken.

Aber nicht so im Spätkapitalismus. Hier wurde debattiert und gerechnet, wie viele Jahre ihrer Lebenszeit sie durchschnittlich verlieren würden, wenn sie denn stürben, und ob es denn ethisch überhaupt vertretbar wäre, dass wegen prozentual so wenigen Risikopatienten deutlich mehr gesunde Menschen Einschnitte in ihren Leben hinnehmen müssen.

Der "schwedische Weg" war eine zeitlang in aller Munde. Der schwedische Weg der Corona-Bekämpfung sah nämlich nicht vor, dass der Staat die Bevölkerung bevormundet und das Sozialleben reglementiert und verbietet. Der schwedische Staat setzt auf Aufklärung und Freiwilligkeit. Soweit klingt das sehr vernünftig. Doch es drangen Stimmen aus Schweden durch das unmenschliche Getöse dieser Debatten, die es eben nicht so ganz in Ordnung fanden, dass die Alten und Kranken vom schwedischen Gesundheitssystem zum Sterben aussortiert werden. Sie erhalten keine Behandlung. So etwas hörte man sonst nur aus Frankreich oder Italien. Dort wütete das Virus in manchen Gegenden so heftig, dass das öffentliche Gesundheitssystem kollabierte, die Ärzte triangulieren mussten und Vorerkrankten und Alten je nach geschätzter Überlebenschance eine Behandlung oder palliative Sedierung mit Morphium zukommen ließen.

In dieser zynischen Gemengelage tauchte immer wieder ein unheilvoller Gedanke auf: Die Wirtschaft wird, als von menschlichen Intentionen entkoppelter Prozess, wie eine Gottheit verehrt, der es fortwährend Menschenleben zu opfern gilt. Diese Erkenntnis drängte sich nun unweigerlich ins allgemeine Bewusstsein. Zwar wird bei herkömmlichen Arbeitsschutzdebatten die latente Menschenverachtung geschickt verschleiert, doch unter den Bedingungen der Pandemie trat sie in ihrer ganzen Brutalität zutage.

Natürlich bedürfen wir allerhand Güter – von Medikamenten bis hin zu Nahrungsmitteln –, die im ökonomischen Prozess erzeugt werden. Doch es ist der Profitgott, der jede alternative Logik, die etwa am reinen Bedarf der Bevölkerung ansetzt, unterbindet. Anstatt zu fragen, wie sich die Versorgung mit lebenswichtigen Arzneimitteln jenseits marktwirtschaftlicher Kalkulationen sicherstellen ließe, kreisen die Fragen um "Wertschöpfung", um die Senkung der "Kosten pro gerettetes Leben", wie Neue Zürcher Zeitung aussprach, was sich so einige dachten. (Wie viel Geld darf ein Menschenleben kosten? Die heikle Frage in der Corona-Krise | NZZ Magazin)

So wirkte die Pandemie wie ein Brennglas, das den Blick auf die tief verankerten Wertvorstellungen unserer Gesellschaft schärfte. Die Götter der Ökonomie verlangen Opfer – Menschenleben, ohne Rücksicht auf Alter, Vulnerabilität oder Würde.

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